Dienstag, 8. Juli 2014

So wie einst in Yokohama?

Derzeit wird viel über die Wiederentdeckung des Ergebnisfußballs von 2002 geschrieben. Der Vergleich hinkt natürlich ein wenig, aber ein genauerer Blick lohnt allemal. Droht Manuel Neuer das Schicksal des tragischen Helden?

Faktor Favoritensterben: Frankreich kam 2002 nicht an Dänemark, Uruguay und dem Senegal vorbei. Portugal scheiterte an Südkorea und den USA. Argentinien und Nigeria hatten sich gegen England und Schweden mehr als die Heimreise ausgerechnet. Im Achtelfinale ging es munter weiter. Die USA schlagen Mexiko, Italien hat gegen Südkorea das Nachsehen und Schweden, das gerade die Hammergruppe überstanden hatte, scheidet gegen den Senegal aus. Kurzum, die Reihen waren im Viertelfinale sehr gelichtet. Mit so einer Situation hatten wir es in diesem Jahr trotz der Ausfälle von Portugal, Spanien und Italien nicht zu tun. Die Halbfinals heißen Brasilien gegen Deutschland und Niederlande gegen Argentinien. Das ist klangvoller und entspricht mehr der Leistungsfähigkeit der angetretenen Teams als seinerzeit Brasilien gegen die Türkei und Deutschland gegen Südkorea. Außerdem gab es bei diesem Turnier insgesamt eine sehr viel höhere Leistungsdichte als 2002. Die einzige Mannschaft, die sich 2014 dann doch etwas über Wert verkauft hat, ist Costa Rica. 

Faktor Spielweise: Ja, es geht wieder ergebnisorientierter zu als bei den vergangenen Turnieren. Trotzdem sind die Leistungen dieser Tage natürlich höher einzuschätzen als das, was Völlers Truppe 2002 gezeigt hat. Entscheidender Unterschied ist, dass man es damals schlicht nicht besser und vor allem nicht anders konnte. Heute bedient sich die Mannschaft einer kontrollierenden und nicht immer spektakulären Spielweise. Aber sie könnte auch anders. Dennoch: Wir erleben keine Spektakel der Löw-Elf und werden sie bei dieser WM auch nicht mehr erleben. Jetzt kommt es darauf an, ob das Team gut genug ist, seinen Stiefel auch gegen Brasilien und den Finalgegner durchzuziehen.

Faktor Personal: Da hat sich einiges getan. 2002 gab es Ballack. Und Schneider. Klose hatte die Saudis verspeist aber dann auch nicht immer die Durchschlagskraft. Frings machte auf sich aufmerksam. Und natürlich überstrahlte der überragende Oliver Kahn alles. Völler bediente sich aber auch bei Ramelow, Jeremies, Linke, Bode und weiteren Kumpanen. Didi Hamann war noch kein Champions-League-Held und eher ein unauffälliger Begleiter des Spiels. Da liest sich das Line Up heute schon besser. Ob Bayern, Dortmund, Chelsea, Arsenal, Real – wir müssen uns keine Sorgen machen, dass unsere Jungs bei mittelklassigen Klubs verdorben werden. Die Beschäftigungsorte der Stars von heute sagen viel über die Leistungsfähigkeit dieser Spielergeneration aus und deuten auf ein erlesenes Niveau dieser Auswahl hin. Wer jetzt unsere etwas klotzig daherkommende Defensive mit dem Bollwerk von damals vergleicht, schießt ebenfalls am Ziel vorbei. Gerade im Zentrum hat Löw mit der Aufstellung von Boateng und Hummels gezeigt, dass ihm neben Stabilität auch eine kultivierte Spieleröffnung durchs Zentrum wichtig ist.

Faktor Trainer: Bei Brasilien hat sich da nicht viel getan. Das Gesicht ist das Gleiche. Dennoch hören Trainer es natürlich nicht gern, wenn man ihnen keine Entwicklung zutraut. Scolari hat sich, wenn man sich seine aktuelle Mannschaft ansieht, vor allem bei Chelsea weiterentwickelt. Da ist viel Kraft unterwegs, das filigrane Element wurde mit gebrochenem Wirbel vom Platz getragen. Man könnte sagen, das Jogo Bonito hat Rücken. Beim DFB hat man mit Völler auf jemanden gesetzt, der nach seiner Karriere als Nationaltrainer nur wenige Wochen beim AS Rom aushelfen durfte. Man hätte sich in der ewigen Stadt gern entsetzt über sein Taktik-Training geäußert. Nur gab es keins. Bei allem Unverständnis, das Löws Entscheidungen bisweilen auslösen, darf sein Engagement getrost als Quantensprung bezeichnet werden.

Faktor Favoritenrolle: Bei der WM 2002 war es den deutschen Fans fast schon peinlich, dass es diese Mannschaft ins Finale geschafft hatte. Mir ging es jedenfalls so, und ich machte gerade mein Abi und war eigentlich durch nichts zu erschüttern. Der Unterschied dessen, was die deutsche Nationalmannschaft damals unter Fußball verstand, zu dem, was die Brasilianer zeigten, war derart himmelschreiend, dass die bloße Anwesenheit der Völler-Mannen im Finale absurd wirkte. Was diese Favoritenrolle der Brasilianer wert war, zeigte sich im Spiel. Deutschland legte munter los und zeigte die beste Turnierleistung. Dieses Mal begegnet man sich praktisch auf Augenhöhe. Der Ausfall von Neymar und vor allem Thiago Silva wiegt schwer. Vor heimischer Kulisse werden die Verbliebenen aber nun besonders angestachelt sein. Außerdem helfen die Ausfälle den vor dem Turnier hoch favorisierten Brasilianern, die Initiative den Deutschen zu überlassen.

Faktor „Da war doch was“: Dass ein Torwart seine Mannschaft mehrfach rettet und als der überragende Spieler des Teams gilt, kenn wir schon von 2002. Damals wurde Oliver Kahn zum Titanen, sein Sturz im Finale war umso tiefer. Torhüter wandeln immer an der Grenze zwischen Helden- und Deppentum. Und keiner reizt das Risiko derart aus wie Manuel Neuer. Mit seinen Läufen jenseits der Strafraumgrenze sicherte er das Weiterkommen gegen Algerien, seine Rettungstat gegen Benzema in letzter Minute rettete ein weiteres knappes Ergebnis. In einem Team ohne den ganz herausragenden Feldspieler könnte der Torwart wieder zum überragenden Mann werden. Doch wie lange geht das riskante Spiel Neuers noch gut? Wird er auch vom Titan zum tragischen Helden? Diese Parallele zu 2002 wäre nun wirklich frappierend. Hoffen wir mal, dass es nicht so kommt. Mut macht, dass der heutige Mittelstürmer der Brasilianer mit dem damaligen nur die Nationalität gemein hat. 

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