Samstag, 30. April 2011

Heulsusen

Das waren noch Zeiten. Andreas Möller, nicht nur von Lothar Matthäus mit eindeutiger Geste als Heulsuse verspottet, verteilte seine Tränen in den Stadien der Fußball-Bundesliga. Sei es aus Schmerz, aus Rührung oder taktischem Kalkül: Möller weinte hemmungslos, hingebungsvoll und authentisch. Der heutige Manager der Offenbacher Kickers hätte sich damals wahrscheinlich auch nicht träumen lassen, dass die bittere Träne zum beliebten Stilmittel gestandener Bundesliga-Recken wird. Calli vor der Bayer-Kurve in Nürnberg nach dem Fast-Abstieg, notdürftig geherzt von Klaus Augenthaler; Andi Brehme an der Brust von Rudi Völler beim Total-Abstieg des FCK; Huub Stevens, You'll never walk alone schmetternd nach der Meisterschaft der Herzen: all das sind emotionale Szenen, wie wir sie kannten und akzeptierten, wenn wir sie schon nicht liebten.
Heute kommt das Weinen wieder eher möllerhaft daher, sprich etwas unnötig und leicht aufgesetzt, um es milde zu formulieren. Die jüngsten Gefühlsausbrüche werfen Licht auf eine seltsame Tendenz in der Bundesliga. Neuer verlässt Schalke und kann die Tränen nicht zurückhalten. Stanislawski hat keinen Bock mehr auf Fahrstuhlfahrten mit dem FC St. Pauli und sagt bewegt "tschüß". Beide beteuerten, dass es ihnen schwer falle zu gehen, und dass sie ihren Noch-Arbeitgeber immer im Herzen tragen werden.  Da fragt sich der Volksmund, warum sie dann gehen.
Beide wollen sich sportlich weiterentwickeln. Das ist eine löbliche Motivation, die sie da haben und es hätten sich den beiden eine Menge Clubs geboten, die höher im Kurs stehen als Schalke oder St. Pauli. Die Gerührten (oder sollte ich sagen: Geschüttelten?) ziehen es aber vor, sich dem FC Bayern und der TSG Hoffenheim anzuschließen. Die beiden Identifikationsfiguren der Bundesliga verlassen ihre Clubs, um fortan dem ideologischen Gegenteil oder dem erbitterten Erzfeind zu dienen. Ein Freund von mir ist Bayern-Fan. Er behält die Fassung, wenn er an Real Madrid denkt, auch, wenn ihm jemand mit einem BVB-Schal kommt. Der HSV erzürnt ihn nur kurz aber in Rage gerät er, wenn es um den FC Schalke geht. Da geht es ihm wie den Bayern-Ultras, die gegen Neuer Sturm laufen, einzig der Nationaltorwart und der Bayern-Vorstand scheinen einen Wechsel für eine gute Idee zu halten.
Und ein Verein, dessen Fans ein Problem damit haben, wenn ein Kreditinstitut Bandenwerbung macht oder das eigene Stadion über Logen verfügt, kann keinen entfernteren Gegenpol finden als die Disneyland-Gesellschaft aus dem Kraichgau. Stani mit dem Totenkopf auf dem Sweater und Manu mit der Eckfahne, Olli Kahn verballhornend auf dem Boden der Allianz-Arena liegend - wir alle dachten, dass die Bundesliga ihr letztes bisschen Glaubwürdigkeit aus diesen Typen zieht. Dass sich die Beiden aus Geld-, Titelgier oder einfach aus dem Wunsch nach einem beschaulichen Leben heraus der dunklen Seite anschließen, wird tiefere Risse in der glänzenden Fassade des deutschen Profifußballs hinterlassen als das sich bis zur Kotzgrenze drehende Trainerkarussell.
Im Fall Neuer können wir Hoffnung schöpfen, weil plötzlich Manchester United in den Ring steigt und vielleicht ein Angebot macht, das der Gelsenkirchener nicht ablehnen kann. Einen Wechsel nach England würden ihm einige Fans verzeihen, in diesem Fall könnte Neuer von der Chance seines Lebens sprechen und alle würden weinen zu seinem Abschied. Geht er aber tatsächlich zum FC Bayern, der sich stillos wie immer bereits jetzt mit der Verpflichtung brüstet und die eigenen Torhüter zu einem gefährlich frühen Zeitpunkt ins Abseits stellt, wird es ein unangenehmer Abschied. Dann stehen die Tränen der Pressekonferenz gegen den Abgang durch die Hintertür. Schlechten Gewissens wird er nach dem letzten Saisonspiel, außer Reichweite des Mobs, seinen Wechsel verkünden. Es würde ein unwürdiges Lebewohl eines Helden, der seine Anhänger so verzückt und seinen Club so oft am Leben gehalten hat. Er nagt auch beim FC Schalke nicht am Hungertuch. Wenn er seinen Verein so sehr liebt, dass er Tränen vergießt, wenn er geht; wenn er den Anschein erweckt, man würde ihn zwingen zu gehen, warum bleibt er dann nicht einfach? Nur in einem Fall würde ich alles zurücknehmen. Dann nämlich, wenn in ein paar Jahren öffentlich würde, dass Manuel Neuer wegen der Schuldenlast der Gazprom-Zweigstelle tatsächlich gezwungen wurde, seine Liebe zu im Stich zu lassen. Nichts anderes könnte meine Enttäuschung über Neuer relativieren und selbst dann würde ich ihn noch fragen: Warum nur die Bayern?

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